Zum Zeitpunkt der Geburt von Pavel Haas hat sein Vater in der örtlichen Filiale der Textilfabrik Taussik & Sohn gearbeitet, bevor er 1907 sein eigenes Schuhgeschäft „Schuhe der tschechischen Produktion U Zajíce“ eröffnet hat (im Namen der Firma hat er den Wortwitz „Haas – Zajíc“ verwendet). In der Familie Haas gab es nicht nur Geschäftsleute, sondern auch Künstler: der Onkel Michael Epstein war Schauspieler in Wien, die Cousine von Pavel und Hugo, Bedřiška Reichnerová, Solistin des Nationaltheaters Prag, und der Onkel Richard Reichner, bei dem Pavel und Hugo ihre Sommerferien verbracht haben, jüdischer Kantor im mittelböhmischen Kolín. Unter seinem Einfluss, umgeben von synagogaler Musik, machte Pavel Haas seine ersten musikalischen Schritte und diese Einflüsse hat er später in seinen Kompositionen verarbeitet.
Er besuchte zuerst die deutsche Schule, im Jahre 1910 ist er an die I. tschechische Realschule in Brünn übergetreten. Sein Interesse für die Musik, unterstützt von seiner Klavierlehrerin, Anna Holubová (die ihm geraten hat, er solle sich der Musiktheorie widmen), hat 1913/14 zu einer Unterbrechung geführt. Er ist in die Musikschule des Brünner Vereins Beseda eingetreten, in der er Klavier, Harmonie- und Kontrapunktlehre, Ästhetik und Musikgeschichte erlernt hatte. Zu seinen Lehrern gehörte auch der spätere Direktor des Konservatoriums in Brünn, Jan Kunc. Die Realschule hat er am 25. September 1915 abgeschlossen.
Seine erste Komposition, das Konzertstück Nr. 1, trägt das Datum 7. August 1912. Diese Schaffensperiode kulminiert im Jahre 1916 mit der Klaviersonate B-Dur, Drei Fugen für Streichquartett, dem Psalm 19 für Tenor und Orgel, der Violinsonate G-Dur; es gibt auch Fragmente von zwei Orchesterwerken nach alttestamentarischen Themen, Jonas (1914) und Exodus der Israeliten aus Ägypten (1915), das Fragment einer Kantate Am Scheideweg nach dem Gedicht „Eine Winterballade“ von Jan Neruda und einige Lieder nach Nikolaus Lenau, Friedrich Schiller, Adelbert von Chamisso, Franz Grillparzer oder seines Bruders Hugo Haas. Unvollendet ist auch die Symphonie E-Dur geblieben (immerhin achtundsechzig Partiturseiten), an der der Komponist im Sommer 1916 gearbeitet hat. Die Opusnummer 1 hat erst der im Frühling 1919 vollendete Zyklus Sechs Lieder im Volkston erhalten. Die Inspiration durch die Folklore wird eines der charakteristischen Merkmale des Schaffens von Haas bleiben.
Im März 1917 musste Pavel Haas den Militärdienst antreten und sein Musikstudium und seine Kompositionstätigkeit vorübergehend unterbrechen. Bereits im Schuljahr 1917–1918 hat er seine Studien der Harmonie bei Vilém Petrželka fortgesetzt. Im Herbst 1919 wurde er an das neu gegründete Brünner Konservatorium in die Klasse von Jan Kunc (Komposition) und Vilém Petrželka (Kontrapunkt) aufgenommen – und zwar direkt in den 3. Jahrgang. Auch Hugo Haas wurde Student des Konservatoriums, im Fach Gesang. Unter der Leitung von Jan Kunc hat Pavel Haas Kleine Präludien für Klavier, Drei Lieder nach Josef Svatopluk Machar Op. 2 und das Streichquartett Nr. 1 cis-Moll Op. 3 komponiert. Im September 1920 wurde er Schüler der neu gegründeten Meisterklasse von Leoš Janáček, und gemeinsam mit dem Komponisten und Organisten Gustav Homola sein erster Absolvent (sein Diplom trägt das Datum 28. Juni 1922). Zu seinem Lehrer und Mentor Janáček hatte Pavel Haas eine sehr herzliche Beziehung, obwohl er später seinen Unterricht geschildert hat: „Heute zerstörte er mit dicken Linien die schwierige Arbeit eines jungen, verängstigten Gehirns, und andersmal tobte er leidenschaftlich über seine eigenen Hieroglyphen. [...] Der Meister lobte fast nie. Entweder verurteilte er oder schwieg.“ Unter Janáčeks Aufsicht sind im Jahre 1921 Chinesische Lieder Op. 4 und das Scherzo triste für Orchester entstanden, ein Ergebnis der unglücklichen Liebe zu Marie Jarůšková, die Haas im Jahre 1920 kennengelernt hatte, die Beziehung jedoch aufgrund gesellschaftlicher Konventionen zwei Jahre später beenden musste. Einer der Gründe war wahrscheinliche auch die jüdische Herkunft von Haas. „Ein großer Garten, der Frühling und Liebe atmet … Die Seele ist unruhig wie ein raues Meer, das Herz wird hin und her geworfen wie ein verlassenes Schiff, endlose Sehnsucht, schmerzhaft wie die untergehende Sonne … Dunkel – Abend – Frühlingsabend, schmerzhafter Abend ... Die Sterne leuchten als einzige Hoffnung... Sie ist nicht gekommen... Das Schicksal ist hart, unnachgiebig!!! Wieder einer dieser Abende, an denen man den Glauben an die Liebe, an das Leben und alles verliert…,“ hat Pavel Haas nach einem nicht verwirklichten Treffen geschrieben. Den Schmerz der Trennung von Marie hat Haas später im Klavierquintett mit dem Tenor-Solo Fata Morgana Op. 6 nach den Worten von Rabindranath Tagore (1923) und im Streichquartett Nr. 2 „Aus den Affenbergen“ Op. 7 (1925) verarbeitet, in dem das Volkslied „Als ich gekommen bin, hat mein Mädchen noch geschlafen“ an Marie erinnert.
Das Scherzo triste aus dem Jahr 1921 war ein Ergebnis der unglücklichen Liebe zu Marie Jarůšková. Philharmonie Brno, Dirigent Israel Yinon.
Schuhmacher und Komponist
Nach dem Abschluss der Meisterschule ist die Zeit gekommen, in dem Haas eine Existenz suchen musste. Der 23jährige hat zuerst versucht als Komponist, Pianist und Lehrer sich zu etablieren. Schließlich wurde er Teilhaber im Geschäft seines Vaters. Doch auch in dieser Situation hat er nicht mit dem Komponieren aufgehört. Er war auch im Klub der mährischen Komponisten sowie als Musikkritiker und Publizist tätig. Bereits an der Meisterschule hat er für das Theater gearbeitet: Im Jahre 1921 hat er unter dem Pseudonym H. Pavlas die Bühnenmusik zum Drama von Karel Čapek R. U. R. komponiert, die leider verschollen ist, im Januar 1923 die Musik zum Stück von Quido Maria Vyskočil Das Ende der Räuber von Petrow und im März zu Georg Büchners Woyzeck für den Prager Schauspieler und Regisseur Emil Artur Longen, der mit seinem Ensemble „Revolutionsbühne“ ab Februar bis Juni 1923 im Saal Reduta in Brünn gastiert hat. Zur Jahreswende 1925–1926 sind die Musiken für die Komödie Der lustige Tod von Nikolai N. Ewreinow (Landestheater in Brünn), Primus tropicus von Zdeněk Němeček (Stadttheater in Prag-Weinberge), Pulcinellas Sieg von Blahoslav Zavadil (Uraufführung am 22. Januar 1926 am Landestheater Brünn) entstanden und im Jahre 1928 für das Brünner Landestheater die Musik zur tschechischen Aufführung des Stücks von Samson Raphaelson The Jazzsinger. Am 12. August 1928, eine Woche vor der Premiere, ist Leoš Janáček gestorben. Pavel Haas hielt als Geschäftsführer des Mährischen Komponistenklubs bei dessen Begräbnis die Laudatio.
Eines der meistgespielten Werke von Haas – sein Streichquartett Nr. 2 „Aus den Affenbergen“ Op. 7 – hat am 16. März 1926 das Mährische Streichquartett urauffgeführt. Es spielt Pavel Haas Quartet.
Zwischen 1923 und 1930 sind relativ wenige Kompositionen entstanden, überwiegend Kammermusik, die sich jedoch durch einen hohen kompositorischen Reifegrad auszeichnet. Nach der Fata morgana Op. 6 (1923) und dem am 16. März 1926 durch das Mährische Quartett uraufgeführten Streichquartett Nr. 2 „Aus den Affenbergen“ hat er im Jahre 1927 den Liederzyklus Die Auserwählte nach Jiří Wolker für eine atypische Besetzung (Flöte/Piccolo, Violine, Horn und Klavier) komponiert, und für das im Jahre 1928 neugegründete Mährische Bläserquintett eines seiner später meistgespielten Werken, das Bläserquintett Op. 10. „In dieser unbeschwerten Komposition herrscht Bewegung. Ob es der Rhythmus der weiten Landschaft und Vogelgezwitscher ist, oder die unregelmäßige Bewegung eines Landwagens, ob es der warme Gesang des menschlichen Herzens und der ruhige, kühle Fluss der Mondstrahlen ist, oder die Ausschweifung der schlaflosen und durchgeschwärmten Nacht oder das reine, unschuldige Lächeln der Morgensonne ist... es ist immer die Bewegung, die alles beherrscht. Und deshalb muss ich besonders betonen, dass es in dieser merkwürdigen Komposition keine Absicht oder Besonderheit ist, wenn ich im letzten Satz Schlaginstrumente, Jazz, einsetze, weil diese Idee mit dem ursprünglichen Plan des Stücks fest verbunden ist und im rhythmisch und dynamisch letzten Satz gipfelt,“ hat Haas sein Werk in der Zeitschrift Hudební rozhledy im Jahre 1926 (Nr. 7) beschrieben. Hinzuzufügen ist, dass der Komponist später vor allem aus Gründen von Aufführungsschwierigkeiten auf die Verwendung von Schlaginstrumenten im 4. Satz verzichtet hat. Im Jahre 1929 ist noch Der Karneval Op. 9 für Männerchor entstanden, wieder auf die Worte von Jiří Wolker.
„In dieser unbeschwerten Komposition herrscht Bewegung,“ hat Pavel Haas im Jahr 1926 sein Bläserquintett Op. 10 in der Nr. 7 der Zeitschrift Hudební rozhledy charakterisiert. Wiedergegeben vom Stuttgarter Bläserquintett.
Rundfunk und Film
Im Jahre 1924 wurde die Brünner Redaktion des Tschechoslowakischen Rundfunks gegründet, die künftig zu einem wichtigen Bestandteil des Kulturlebens in der mährischen Metropole geworden ist. Eine der maßgebenden Persönlichkeiten war dabei der Dirigent, ein Freund von Haas und Kollege vom Mährischen Komponistenklub, Břetislav Bakala, der nach vier Jahren das 26-köpfige Kammerorchester des Brünner Rundfunks zusammengestellt und 1930 seine Kollegen und ehemaligen Mitschüler aufgefordert hat, etwas für dieses zu schreiben. Haas hat zu dieser Gelegenheit seine Radio-Ouvertüre Op. 11 geschrieben, eine Homage an das Radio und dessen Erfinder Guglielmo Marconi. Das Werk ist für kleines Orchester bestimmt, zum Schluss kommen vier Männerstimmen dazu, den Text hat Hugo Haas geschrieben. Nach der Uraufführung der Radio-Ouvertüre 1931 hat Pavel Haas im Sommer mit seiner Mutter nach Deutschland gereist, wo er seine nächste Komposition entworfen hat – ein Konzert für Orgel, aus dem schließlich der Psalm 29 für Orgel, Bariton, Frauenchor und kleines Orchester entstanden ist. Haas hat darin das Glockenspiel im Kölner Dom angedeutet.
Sein Bruder Hugo Haas ist inzwischen nicht nur an den Prager Theatern populär geworden, er war auch ein gefragter Filmschauspieler. Mit dem Regisseur Martin Frič hat er 1933 einen sehr erfolgreichen Film Život je pes (So ein Hundeleben) gedreht, zu dem Pavel Haas nach langem Überreden die Musik geschrieben hat, im Jahre 1934 ist eine deutsche Version unter dem Titel Der Doppelbräutigam entstanden (Moldavia-Film AG Prag und Itala-Film GmbH Berlin). Die Musik von Haas wurde auch für die deutsche Version verwendet, doch als Komponist wurde Erich Einegg angegeben; Haas hat seine Urheberschaft sogar gerichtlich reklamiert. In die Filmographie von Haas gehören weiter Mazlíček (Das Lieblingskind, 1934) und Kvočna (Die Glucke, 1937), diesmal hat er das Pseudonym Ivan Pavlas verwendet. Der Anfang der 1930er Jahre bedeutete für Pavel Haas nicht nur beruflichen Erfolg, sondern auch Veränderungen in seinem Privatleben. Am Ende des Jahres 1933 ist seine Mutter Olga an Krebs gestorben. Während ihrer Krankheit hat Haas die Prager Ärztin Soňa Jakobsonová kennengelernt, die Frau des bekannten russischen, in Prag wirkenden Philologen Roman Jakobson, die Olga Haasová seit 1932 behandelt hat. Die zuerst platonische Beziehung zwischen Haas und ihr hat zur Scheidung des Ehepaares Jacobson geführt. Im Oktober 1935 hat Haas Frau Soňa geheiratet, am 1. November 1937 wurde die Tochter Olga geboren.
Erst nach langem Überreden hat Pavel Haas die Musik zum Film des Regisseurs Martin Frič So ein Hundeleben geschrieben, in dem sein Bruder Hugo Haas die Hauptrolle gespielt hat. Es war ein großer Erfolg!
Der Scharlatan
Soňa Haasová hat darauf bestanden, dass ihr Mann sich ausschließlich der Komposition widme. So hat Haas zum ersten Mal genug Zeit für sein Schaffen gehabt. Außerdem hat er privat unterrichtet, zu seinen Schülern gehörten Karel Horký, Richard Kozderka und Lubomír Peduzzi. Noch vor der Hochzeit hat Haas die Klaviersuite Op. 13 vollendet, die am 10. Februar 1936 der Absolvent der Meisterschule von Vilém Kurz, Bernard Kaff, im Ehrbarsaal in Wien uraufgeführt hat. Zu dieser Zeit hat Haas an seiner Oper Der Scharlatan zu arbeiten begonnen. Den geeigneten Stoff hat er im Jahre 1934 beim deutschen Schriftsteller Josef Winckler Doktor Eisenbart gefunden, dem Roman über einen reisenden Arzt an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. Nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze im Jahre 1935 war aber jede Zusammenarbeit mit jüdischen Autoren in Deutschland verboten, und für Winckler stellte die Verbindung zu Haas eine große Gefahr dar, Haas den Stoff jedoch nicht aufgeben wollte. Nach erfolglosen Verhandlungen mit Winckler hat er aus dem Libretto alles entfernt, was an das deutsche Milieu erinnert konnte, die Titelperson wurde Pustrpalk benannt und auch andere Personen haben tschechische Namen erhalten. So ist eine Geschichte nach dem Vorbild des tschechischen mittelalterlichen Mastičkář (Salbenkrämer) entstanden. Das Libretto hat Haas zwischen Mai und Juni 1934 geschrieben, die Partitur wurde in zwei Jahren vollendet. Geleitet vom Plan nach einem Spektakel im Still der barocken Volksschauspiele hat Haas für den Scharlatan ein großes Ensemble vorgeschrieben, in dem neben dreißig Solisten auch zwei Chöre, Tänzer und Statisten zum Einsatz kommen. Die Uraufführung fand am 2. April 1938 im Brünner Theater Auf den Schanzen ( (heutiges Mahen Theater) statt. Der Dirigent war Quido Arnoldi, die Regie führte Rudolf Walter, die Ausstattung hat František Muzika geschaffen, der Choreograph war Ivo Váňa Psota. Am Ende des Jahres 1938 hat Haas für die Oper den Preis der Smetana-Stiftung erhalten (der Preis wurde damals auch der Komponistin Vítězslava Kaprálová zuerkannt). Bis Juli wurde die Oper sieben Mal gegeben. Nach dem Münchner Abkommen vom 30. September 1938 musste sie aus dem Repertoire genommen werden, eine schnelle Abfolge von weiteren Ereignissen folgte. Am 28. Januar 1939 wurde ein Werk von Haas zum letzten Mal im Rundfunk gesendet, sein Zyklus von Volksliedern Vom Abend zum Morgen. Er bewarb sich erfolglos um die Stelle als Professor für Komposition am neu eröffneten Konservatorium in Teheran und auch seine Bemühungen um Einreisevisa in die Sowjetunion, nach England oder in die USA blieben ohne Erfolg. Seinem Bruder Hugo ist es gelungen, nach Frankreich und dann in die USA zu emigrieren, seinen gerade geborenen Sohn hat er in der Obhut von Pavel und Soňa Haas anvertraut. Am Tag der Besetzung der Tschechoslowakei, dem 15. März 1939, sind sie nach Prag geflohen, doch schon am nächsten Tag nach Brünn zurückgekehrt. Haas musste auch seine publizistische Tätigkeit aufgeben, die er für die Zeitungen Národní noviny und vorher auch für Národní listy entfaltet hatte. Er hat vor allem über das Brünner Kulturleben geschrieben, auch über die moderne Musik im Allgemeinen. Im September 1939 musste die Familie ihren Radioempfänger abliefern und Soňa durfte ihre Arztpraxis, die Haupteinnahmequelle der Familie, nicht mehr ausüben. Haas hat nach und nach seine Schüler verloren, eine kurze Zeit hat er Gesang am jüdischen Gymnasium unterrichtet, das ebenfalls bald aufgelöst wurde. Aus existenziellen Gründen ließen sich Pavel und Soňa Haas am 13. April 1940 scheiden. Soňa Haas durfte wieder als Ärztin praktizieren. Sie haben weiterhin in ihrer Wohnung zusammen gelebt, doch im Frühling 1941 ist Pavel Haas bei seinem Vater in der Smetanagasse eingezogen und am 25. April mussten sie beide in die Sadová Nr. 8 übesrsieldeln, wo mehrere jüdische Familien in einer einzigen Wohnung untergebracht waren. In der Wohnung seiner entfernten Verwandten Pavla Rohlenová gab Haas heimlich Unterricht und konnte sich mit seiner Frau treffen. Am 2. Dezember 1941 wurde er mit einem der ersten Transporte (Nr. G-731) nach Theresienstadt verschleppt. In Brünn hat er die unvollendete Symphonie für großes Orchester zurückgelassen. Der Komponist Osvald Chlubna hat bereits kurz nach dem Krieg versucht, sie zu rekonstruieren, erst nach fast einem halben Jahrhundert hat sie Zdeněk Zouhar vollendet. Im 1. Satz hört man Anklänge an Psalmenmelodien, in der Kombination mit dem St. Wenzels-Choral. Im 2. Satz wird das nationalsozialistische Propagandalied „Die Fahne hoch“ karikiert. Im März 1942 ist auch der einundsiebzigjährige Vater von Haas nach Theresienstadt gekommen, wo er am 13. Mai 1944 gestorben ist.
Die Oper Der Scharlatan nach dem Roman von Josef Winckler Doktor Eisenbart ist ein großes Spektakel, in dem neben dreißig Solisten auch zwei Chöre, Tänzer und Statisten zum Einsatz kommen. Die Uraufführung fand am 2. April 1938 im Brünner Theater Auf den Schanzen statt. Die Ouvertüre und die erste Arie Hereinspaziert, liebe Leute. Leo Marian Vodička, Ladislav Mlejnek, das Orchester der Staatsoper Prag, Dirigent Israel Yinon, 1998.
In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre hat Haas außer dem Scharlatan auch weitere bedeutende Werke geschrieben, vor allem die sechssätzige Suite Op. 14, in der er mit dem Material aus dem Scharlatan gearbeitet hat, das Streichquartett Nr. 3 Op. 15, den Liederzyklus für Sopran, Tenor, Frauen- und Männerchor und Orchester Vom Abend zum Morgen Op. 16, und vor allem die Suite für Oboe und Klavier Op. 17 (1939), in der er die dramatische Zeit verarbeitet hat und den St. Wenzels-Choral und das hussitische Kampflied „Die ihr Gottesstreiter seid“ zitiert. Vor seiner Deportation nach Theresienstadt ist es ihm noch gelungen, die Sieben Lieder im Volkston op. 18 zu vollenden (1940).
Theresienstadt 1941–1944
In Theresienstadt musste Pavel Haas zunächst schwer physisch arbeiten, bevor es ihm gelungen ist mit administrativen Arbeiten beauftragt zu werden, was ihm auch ermöglichte, sich zumindest teilweise wieder seinem Schaffen zu widmen. Von seinen in Theresienstadt entstandenen Werken sind lediglich drei erhalten geblieben: der Männerchor Al s’fod (Klage nicht, 1942), die Studie für Streicher (1943), deren fingierte Uraufführung am 1. September 1944 unter Karel Ančerl stattgefunden hat, und zwar nach der Abreise der Inspektion des Internationalen Roten Kreuzes, als in Theresienstadt der propagandistische Film „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ gedreht wurde; die tatsächliche Premiere fand am 13. September statt, ein Monat bevor der Komponist und auch der Dirigent Ančerl nach Auschwitz deportiert wurden. Das dritte erhaltene Werk sind die für den Sänger Karel Berman komponierten Vier Lieder nach Worten chinesischer Poesie (1944); Berman hat sie am 22. Juni 1944 mit Rafael Schächter am Klavier in Theresienstadt zum ersten Mal gesungen und dann noch mindestens 15mal wiederholt. Als Vorlagen haben dem Komponisten tschechische Übersetzungen von Bohumil Mathesius aus seiner Sammlung Neue Gesänge des alten China gedient, die von Heimweh sprechen. Haas zitiert wieder den St. Wenzels-Choral, den er bereits in der Suite für Oboe und Klavier Op. 17 (1939), in der unvollendeten Symphonie (1940–41) und im Männerchor Al s‘fod nach dem zu Mut, Ausdauer und Tapferkeit ausfordernden Text von David Shimoni verwendet hatte. Die erhaltenen Werke bilden jedoch nur einen Torso, das Schicksal der Kompositionen, die er nach Auschwitz mitgebracht hat, ist unbekannt geblieben. In Theresienstadt sollen mindestens acht Kompositionen entstanden sein. Die Stimmen der Studie für Streicher hat Karel Ančerl gerettet, der Schüler von Haas, Lubomír Peduzzi, hat aufgrund von ihnen die Partitur rekonstruiert. Zu den nicht erhaltenen Werken gehören vor allem die für das Ledeč Quartett komponierte Phantasie über ein jüdisches Lied (Egon Ledeč war vor dem Krieg Konzertmeister der Tschechischen Philharmonie, sein Leben endete im Oktober 1944 ebenfalls in Auschwitz), die am 28. Juni 1944 in Theresienstadt uraufgeführte Partita im alten Stil für den Pianisten Bernard Kaff (auch er wurde in Auschwitz ermordet, am selben Tag wie Pavel Haas), die für Kaff und Ančerls Orchester komponierten Variationen für Klavier und Streichorchester, ein Zyklus von drei Kompositionen Advent für Mezzosopran, Tenor, Flöte, Klarinette und Streichquartett und das Requiem, eine Totenmesse für die Opfer des Theresienstädter Ghettos (angeblich nur ein Entwurf).
Am 16. Oktober 1944 wurde Pavel Haas mit dem sogenannten „Künstlertransport“ nach Auschwitz deportiert, wo er am nächsten Tag mit den weiteren Künstlern in der Gaskammer ermordet wurde.
Vier Lieder nach Worten chinesischer Poesie hat Pavel Haas in Theresienstadt für Karel Berman komponiert, der sie dort am 22. Juni 1944 mit Rafael Schächter am Klavier zum ersten Mal gesungen. Christian Gerhaher (Bass), Gerold Huber (Klavier), 2007.
Der Musikstil von Pavel Haas
Pavel Haas hat eine kompositorische Entwicklung durchgemacht, die mehr oder weniger seine gesamte Generation geprägt hat: von romantischen Grundlagen über die Bezauberung vom Jugendstil und der Folklore, eine vorübergehenden Leidenschaft für Jazz und neue technische Medien einschließlich Radio und Film, bis hin zu einer bewussten und ernsten Suche nach einem eigenen Ausdruck. Einen bedeutenden Einfluss hatten dabei drei Persönlichkeiten; Jan Kunc, Vilém Petrželka und Leoš Janáček, von dem er eine Arbeitsweise übernonommen hat, die auf relativ kurzen musikalischen Ideen beruht, aus denen dann größere Flächen entstehen. Von der europäischen Musik war er am meisten von Igor Strawinski und den Komponisten der Gruppe Les Six inspiriert. Er hat sich zwar für Schönbergs Harmonielehre (1911) interessiert, die tonale Grundlage in seinen Werken jedoch nie verlassen. Die Melodik bei Haas schöpft aus der Modalität, die auf einer Seite vom mährischen Volkslied, auf der anderen Seite vom synagogalen Gesang ausgeht. Die hebräische Melodik wurde ab der Mitte der 1920er Jahre ein weiterer integraler Bestandteil seiner Werke und deren Ausdruck. Die für jüdische Weisen und für Synagogengesänge typischen Melismen tauchen in den meditativen Teilen seiner Instrumental- und Vokalwerke auf. Eine Besonderheit bildet das Motiv des St. Wenzels-Chorals. Das angeborene Gefühl für Rhythmus hat Haas in den Jazzelementen angewendet, welche vor allem in seinen instrumentalen Kompositionen zu finden sind: Im Streichquartett Nr. 2 Op. 7 (1925), im Bläserquintett Op. 10 (1929), in der Klaviersuite Op. 13 (1935), aber auch im Männerchor Der Karneval Op. 9 (1928–1929) oder in der Klavierbegleitung des Liedes „Im Bambushain“ aus dem Zyklus Vier Lieder nach Worten chinesischer Poesie (1944). Ein weiteres typisches Merkmal des kompositorischen Stils von Haas ist die Polyrhythmik nach dem Vorbild Strawinskis. Das Werk von Haas wird oft im Kontext der tschechischen Musiktradition präsentiert, zu der er sich vor allem aufgrund seiner Bewunderung für Leoš Janáček, seinen Mentor und Lehrer, hingezogen fühlte. Obwohl er in einem zweisprachigen tschechisch-deutschen Umfeld aufgewachsen war, hat er sich als Tscheche gefühlt, indem er tschechische Poesie vertonte und sich von der mährischen Folklore inspirieren ließ.
In einem seiner wirkungsvollsten Werken, in der Suite für Oboe und Klavier Op. 17 aus dem Jahr 1939 hat Pavel Haas die dramatischen Ereignisse der Zeit verarbeitet. Er zitiert den St. Wenzels-Choral und das hussitische Kampflied Die ihr Gottesstreiter seid. Vilém Veverka (Oboe), Ensemble Opera Diversa, Dirigent Robert Kružík. Orchestrierung Ondřej Kyas. LIVE recording.
Works with Opus Number
Op.1 – Šest písní v lidovém tónu (Sechs Lieder im Volkston) für Sopran und Klavier (1918/19) oder Orchester (UA: 29. Mai 1922)
Op. 2 – Tři písně (Drei Lieder) für Sopran und Klavier nach Worten von Josef Svatopluk Machar (1919-1920)
Op. 3 – Streichquartett Nr. 1 (1920, published 1994)
Op. 4 – 3 Čínské písně (Drei chinesische Lieder) für Alt und Klavier nach Worten chinesischer Dichter (1920/1921?, UA 1922)
Op. 5 – Zesmutnělé scherzo (Scherzo triste) für großes Orchester (1921)
Op. 6 – „Fata morgana“ für Tenor und Klavierquintett (“Fata morgana”) (1923)
Op. 7 – Streichquartett Nr. 2 „Z opičích hor“ (“Aus den Affenbergen”) (1925, published 1994)
Op. 8 – Vyvolená (Die Auserkorene) drei Lieder nach Worten von Jiři Wolker für Tenor, Flöte, Violine, Horn und Klavier (1927)
Op. 9 – Karneval (Carnival) für Männerchor nach Worten von Dalibor Chalupa (1928-29)
Op.10 – Bläserquintett (1929, published 1934)
Op.11 – Předehra pro rozhlas (Rundfunk-Ouvertüre) (1931)
Op.12 – Žalm 29 (Psalm XXIX) für Bariton, Frauenchor, Orgel und kleines Orchester (1932)
Op.13 – Klavier-Suite (1935, published 1937)
Op.14 – Šarlatán (Der Scharlatan), tragikomische Oper in 3 Akten (1934-37) (Uraufführung 1938); Suite aus der Oper Der Scharlatan (1936)
Op.15 – Streichquartett Nr. 3 (1938, published 1994)
Op.16 – Vom Abend zum Morgen (Od večera do rána), Bearbeitung slowakischer Volkslieder für Gesang und Orchester (1938)
Op.17 – Suite für Oboe und Klavier (1939-1941, published 1962)
Op.18 – Sedm písní v lidovém tónu (Sieben Lieder im Volkston) für hohe Stimme und Klavier nach Worten von František Čelakovský (1940, published 1994)
Works without Opus Number. Incomplete
Klavierquartett in F-Dur (1914)
Sonate für Violine und Klavier (1916)
Drei Klavierstücke (1919)
Lied aus dem Schauspiel Die Schwester Jaeko von Oldrich Zemek für Gesang und Gitarre (1932)
Geflüster (Šeptem), Klavierstück (1936)
Allegro moderato (1938)
Allegro moderato for Piano (1938)
Al s’fod (Klage nicht;) Männerchor nach Worten von David Shimoni (1941) (may relate to: ) Al Sefod für Männerchor. Theresienstadt, 30.XI.1942 (published 1994, 2002). Nach Worten von David Shimoni
The advent for Mezzo-soprano, Tenor and Quintet
Fantasy on a Jewish Melody
Čtyři písně na slova činské poezie (Vier Lieder nach Worten chinesischer Poesie) (1944, published 1971, 1992)
Partita in Olden Style for Piano [verloren]
Šest písní v lidovém tónu pro soprán a klavír (published 1994) (may relate to Op.18?)
Studie pro smyčcový orchestr (Studie für Streichorchester) (1943, published 1991)
Symphonie für großes Orchester (1940-1941) [unfinished]
Terezín Songs
Three Pieces for Mezzo-soprano, Tenor, Flute, Clarinet and String Quartet [verloren]
Variationen für Klavier und Streichorchester (1944, verloren)
Život je pes (So ein Hundeleben) (1933), Filmmusik
Mazlícek (Das Lieblingskind) (1934), Filmmusik
Kvočna (Die Glucke) (1937), Filmmusik
CzechD 1989
Danuta Czech: Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939–1945, Reinbek: Rowohlt, 1989.
DögeK 2002
Klaus Döge: Haas, Pavel, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Personenteil, Bd. 8, Ludwig Finscher (Hg.), 2. überarb. Aufl., Kassel: Bärenreiter, 2002, Sp. 342–344.
DümlingA 2004a
Albrecht Dümling: Künstlerische Gegenentwürfe zum Ghetto: Zum 60. Todestag von Pavel Haas, Hans Krása und Viktor Ullmann, in: mr-Mitteilungen, Nr. 52–53, musica reanimata. Förderverein zur Wiederentdeckung NS-verfolgter Komponisten und ihrer Werke e. V., Berlin: 2004, S. 1–3.
EcksteinP 1999b
Pavel Eckstein: Pavel Haas (1899–1944), in: Komponisten in Theresienstadt: Pavel Haas, Gideon Klein, Hans Krása, Karel Reiner, Siegmund Schul, Viktor Ullmann, Initiative Hans Krása (Hg.), Hamburg: Initiative Hans Krása, 1999, S. 9–20.